Interviews
„Freiheit macht glücklich und produktiv“

Ein Gespräch mit der Psychologin und Industriedesignerin Stephanie Wackernagel, Projektleiterin am Fraunhofer IAO, über die von ihrem Institut durchgeführten Studien „Wirksame Büro- und Arbeitswelten“ sowie „Office Analytics“ – und die Wirkung der Arbeitsumgebung auf das persönliche Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Frau Wackernagel, was hat mein Unternehmen davon, seine Arbeitsumgebung zu analysieren und umzugestalten?

Stephanie Wackernagel: Unternehmen, die ihre Arbeitsorganisation anfassen, erreichen auch ihre Unternehmensziele schneller. Das heißt, alles, was mit dem Thema neue Arbeitswelten und entsprechenden Räumlichkeiten verbunden wird, kann erst dann seine Wirkung entfalten, wenn auch die Arbeitsorganisation reflektiert und optimiert wird. Unternehmen, die ihre Bürostruktur neu gestalten, denken auch eher darüber nach, wie sie die Arbeit in Zukunft organisieren wollen, die in diesen Räumen stattfindet.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Arbeitsleistung eines Mitarbeiters und seiner Zufriedenheit mit der Arbeitsplatzumgebung?

Stephanie Wackernagel: Absolut, den gibt es und den belegen die Ergebnisse in unserer „Office Analytics“ Studie (Jurecic, Rief & Stolze, 2018). Darüber hinaus ist die Wirkung der Arbeitsumgebung auf den Menschen für mich als Industriedesignerin und Psychologin ein faszinierendes Thema. Eine anregende, abwechslungsreiche Umgebung trägt dazu bei, dass die Gesundheit von Menschen nachhaltig gefördert wird und sie damit letztendlich ihr persönliches Potential entfalten können.

Eine Blaupause für eine ideale Arbeitsumgebung können Ihre Studien nicht liefern, weil diese von den spezifischen Anforderungen an diese abhängig ist, oder?

Stephanie Wackernagel: Kein Patentrezept, das stimmt, aber vielfältige Anregungen und Anstöße. Die beste Arbeitsumgebung ist laut unseren Studien die, die den vielfältigen Anforderungen deren Nutzern begegnet, verschiedene Optionen für Alleinarbeit und Kooperationsarbeit zur Verfügung stellt und damit nachhaltig unsere Gesundheit und Leistungsfähigkeit unterstützt. Dafür gibt es in der Tat keine allgemeingültige Wahrheit. Jedes Unternehmen, jede Organisationseinheit, jedes Team und letztendlich jeder Mitarbeitende hat ganz spezifische Anforderungen, die sich ihm stellen.

Hier ist ein Austausch in ruhiger Umgebung möglich. (Foto: Steelcase)

Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Studien?

Stephanie Wackernagel: Ein wichtiges Zukunftsthema ist, dass offene Strukturen zu einem stärkeren Austausch von arbeitsrelevanten Informationen unter den Mitarbeitern führen. Es ist nicht in erster Linie entscheidend, dass Mitarbeiter häufiger miteinander kommunizieren müssen, sondern dass Zusammenarbeit optimal gefördert wird. Je vielfältiger eine Arbeitsumgebung ist, desto stärker ist die gelebte Zusammenarbeit im gesamten Unternehmen. Wichtig ist auch die Möglichkeit der persönlichen Selbstbestimmung. Vorgesetzte sollten ihren Mitarbeitern Vertrauen schenken und sie die Arbeitsmöglichkeit nutzen lassen, die am besten zu den aktuellen Anforderungen und auch Bedürfnissen passt. Ein weiteres Top-Thema sind Rückzugsmöglichkeiten. In einer vielfältigen Arbeitsumgebung bestehen auch Raum- und Flächenangebote für die kurzzeitige Erholung. Bei dem heutigen Arbeitstempo, ist das unerlässlich.

Gab es am Anfang der Studien bestimmte Ausgangsfragen oder Arbeitshypothesen?

Stephanie Wackernagel: Ja, wir arbeiten natürlich mit mehreren Hypothesen. In der Studie „Wirksame Büro- und Arbeitswelten“ wollten wir grundlegend untersuchen, wie gut verschiedene Bürostrukturen Unternehmen bei der Umsetzung ihrer Ziele unterstützen und welche Faktoren der Arbeitsorganisation davon positiv beeinflusst werden. Eine unserer Hypothesen nahm an, dass zu wenig Rückzugsmöglichkeiten für konzentriertes Arbeiten und zur Erholung existieren. Diese These hat sich über alle Büroformen bestätigt – vom Einzelbüro über verschiedengroße Mehrpersonenbüros bis hin zu Arbeitsumgebungen mit offenen Bereichen.

Warum sind Rückzugsmöglichkeiten in Arbeitsumgebungen so wichtig?

Stephanie Wackernagel: Das Erleben von Privatheit, das durch Rückzugsflächen ermöglicht wird, hängt unmittelbar mit unserer Gesundheit zusammen. Wir tragen alle das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit in uns. Die Studie „Office Analytics“ meiner Kollegen hat ermittelt, dass offene Strukturen erheblich dazu beitragen, dass ein besserer Informationsfluss unter den Mitarbeitern entsteht. Transparenz - auf Ebene der Arbeitsorganisation als auch in der physischen Arbeitsumgebung - ist ein entscheidender Faktor dafür, dass Menschen wissen, was in ihrem Unternehmen passiert. Mitarbeiter wollen auch ihren konkreten Beitrag für ihr Unternehmen kennen. Hierfür sind offene Strukturen äußerst hilfreich. 

Aber: So wichtig Bereiche, in denen man sich offen austauschen kann, auch sind – es muss auch immer ein Pendant dazu geben. In der Arbeitsumgebung besteht ein permanentes Spannungsfeld zwischen Alleinarbeit und Kooperationsarbeit. Wenn die offenen Zonen eher laut sind, muss es auch ruhige Bereiche geben und umgekehrt. Ein Mitarbeiter kann idealerweise Orte aufsuchen, an denen er sich geräuschvoll austauschen kann, aber auch solche, in denen er sich konzentrieren und versenken kann. 

Eine ideale Arbeitsplatzumgebung bietet offene Bereiche zum Austausch und Rückzugsorte für konzentriertes Arbeiten.  (Foto: Steelcase)

Worauf führen Sie es zurück, dass offene Strukturen und Rückzugsmöglichkeiten für Kommunikation und Transparenz förderlicher sind als klassische Büroumgebungen?

Stephanie Wackernagel: Sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass eine Korrelation besteht zwischen der Entfernung, in der Menschen voneinander arbeiten – also ganz konkret in Metern – und der Häufigkeit der Interaktion miteinander. Je größer die Entfernung, desto geringer die Interaktion. Menschen, die an den entgegengesetzten Enden des Flurs arbeiten, treten in der Regel nicht in Kontakt zueinander. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sie sich begegnen. Auf diese Weise geht viel produktives Potenzial verloren, denn Kommunikation bedeutet immer auch, Chancen auszuloten. Sind in Arbeitsumgebungen hingegen Knotenpunkte integriert, an denen Menschen regelmäßig niedrigschwellig zusammenkommen, dann entsteht unweigerlich mehr Kommunikation. Informelle Abstimmungen sind dadurch spontan, kurzfristig und unkompliziert möglich ohne erst einen Besprechungsraum dafür aufsuchen zu müssen.

Ist Deutschland eher ein Entwicklungsland für Orte, die Rückzugsmöglichkeiten bieten, weil man hierzulande immer noch Angst hat, dass es einem als Schwäche ausgelegt wird, wenn man mal nichts in die Tastatur hämmert, nicht im Meeting sitzt oder sich nicht mit dem Textmarker über Unterlagen beugt?

Stephanie Wackernagel: Es wurde in Deutschland eine viel stärkere Trennung der Büroräume vorgenommen als zum Beispiel in den USA oder Asien. Ab der Mitte des letzten Jahrhunderts wurden die Menschen in den USA und vielen Ländern Asiens in großen Räumen verortet. Zunehmend zogen dann US-amerikanische Unternehmen halbhohe Trennwände um die Arbeitsplätze herum. Das gab es in Deutschland so nicht. Hier wurde es üblich, Menschen in Einzel- oder Doppelbüros mit festen Wänden arbeiten zu lassen. Diese Historie hatte entscheidende Auswirkungen auf unser heutiges Verständnis von Kooperation.

Die Büroarbeit hat sich im Kontext der Industrialisierung aus der Produktionsarbeit entwickelt. Auch heute arbeitet die Belegschaft der Produktion in großflächigen Räumen. In diesem Kontext hatte die Arbeitswissenschaft sehr früh erkannt, dass der Produktionsfluss kontinuierlich aufrecht erhalten werden kann, wenn die Menschen unmittelbar miteinander kommunizieren.

In der Büroarbeit war eine unmittelbare Abstimmung hingegen selten erforderlich. Die Zuständigkeiten waren streng geteilt, Aufgaben wurden vorwiegend allein bearbeitet und gegebenenfalls später von Kolleginnen oder Kollegen weiterbearbeitet. In dieser Form hat das getrennte Arbeiten vollkommen Sinn gemacht. Büroarbeitende wurden dadurch allerdings auf Alleinarbeit in Separation gepolt.

50 Prozent der Arbeitszeit besteht aus Kommunikation.  (Foto: Steelcase)

Halten Sie diese Fokussierung auf Alleinarbeit noch für zeitgemäß?

Stephanie Wackernagel: Nein, denn heutzutage muss sich der durchschnittliche Büroarbeitende nur noch etwa 50 Prozent seiner Arbeitszeit alleine auf seine Aufgaben konzentrieren. Die andere Hälfte besteht aus Kommunikation. Aus Telefonaten, Videokonferenzen, informellen Abstimmungen, geplanten Besprechungen, Kreativ- oder Projektarbeit. Die Anforderungen, die sich den Menschen stellen, sind wesentlich vielfältiger geworden. Dennoch haben viele Büroarbeitende Schwierigkeiten damit, sich aus den geschützten Einzelräumen herauszutrauen. Es braucht noch ein zunehmendes Verständnis dafür, dass Kooperation durch eine variantenreiche und transparente Arbeitsumgebung optimaler unterstützt werden kann als durch kleinzellige Raumstrukturen oder Großraumbüros.

Open Spaces versus Rückzugsmöglichkeiten, in denen wir hochkonzentriert produktiv sind. Muss unser Arbeitsleben denn wirklich aus diesen Gegensätzen bestehen?

Stephanie Wackernagel: Nein, das wäre zu holzschnittartig. Gerade bei der Bearbeitung von E-Mails sind nicht hundert Prozent unserer Konzentration erforderlich. Einzelarbeit bedeutet nicht automatisch permanente Fokussierung. Viele unterschätzen den Mehrwert für die eigene Gesamtleistung und Weiterentwicklung, wenn sie Informationen mitbekommen, die nicht unmittelbar mit der aktuellen Aufgabe verknüpft sind. Warum arbeiten manche Menschen denn gerne in einem Café oder in einer interaktionsreichen Zone der Arbeitsumgebung? Für ihre persönliche Produktivität ist es häufig wertvoller, beiläufig von den Teamkollegen Informationen aufzunehmen, als diese z. B. in einer Vielzahl von Meetings über sich ergehen lassen zu müssen. Wenn sie denn überhaupt dort platziert werden würden. Austausch kann auch ungerichtet produktiv sein. Wir verwechseln Produktivität in Deutschland noch sehr stark mit der Möglichkeit zur Konzentration. Diese allein kennzeichnet nicht die Produktivität der Zukunft.

Wie sieht eigentlich aus Ihrer persönlichen Sicht ein idealer Rückzugsort aus?

Stephanie Wackernagel: Jedes Team mit seinen vielfältigen Arbeitstypen hat sehr unterschiedliche Bedarfe. Die Bandbreite an vorhandenen Rückzugsflächen und deren spezifische Ausstattung kann daher ganz unterschiedlich sein. Arbeitsräume sollten zu einem Team passen und deren Arbeitsaufgaben bestmöglich unterstützen.

Ich  persönlich arbeite sehr häufig an einer Whitewall. Dadurch bietet sich mir eine große Fläche, auf der ich Ideen oder Konzepte visualisieren, durchdenken und weiterentwickeln kann.

In Ihrer Studie wird der Multispace herausgehoben als wichtiger Faktor für die Umsetzung von Unternehmenszielen. Warum hat diese Büroform so einen hohen Stellenwert bekommen?

Stephanie Wackernagel: Das hat sehr viele Gründe. Zum einen sind in Multispace Arbeitsumgebungen am stärksten Nutzerbedürfnisse eingeflossen. Unternehmen, die sich für diese Arbeitsumgebung entscheiden, analysieren offenbar vorab die Bedarfe ihre Kolleginnen und Kollegen. Eine Bandbreite vielfältiger Räumlichkeiten berücksichtigt also unterschiedliche Anforderungen und Bedürfnisse. Dazu ist der Multispace häufig ein demokratisch genutzter Raum, in dem Hierarchien nur sehr gering abbildet werden. Hierarchie-Freiheit steht in einem positiven Zusammenhang mit der Arbeitgeberattraktivität. Mitarbeiter empfinden es zudem als Wertschätzung, wenn sie als gleichwertig angesehen werden.

Wertschätzung hängt eng mit Eigenständigkeit und Vertrauen zusammen. Warum fördert die Multispace-Struktur eher die Autonomie der Mitarbeiter?

Stephanie Wackernagel: Die Multispace-Struktur fördert die Nutzung höhere Freiheitsgrade auf Seiten der Belegschaft durch das vielfältige Raumangebot passend zur jeweiligen Arbeitsaufgabe. In diesem Bürokonzept werden Arbeitsaufgaben nicht mehr nur an einem Ort bearbeitet. Die verstärkte Nutzung von Freiheitsgraden auf Mitarbeiterebene, stellt allerdings häufig eine Herausforderung für Führungskräfte dar. Die Studie „Wirksame Büro- und Arbeitswelten“ weist in diesem Zusammenhang auf ein Paradox hin. Es ist Unternehmen und Führungskräften nicht so wichtig, auf welche Weise Arbeitsaufgaben gelöst werden, solange sie die Mitarbeitenden an ihrem Stamm-Arbeitsplatz wissen. Höhere Freiheitsgrade stehen allerdings in einem starken Zusammenhang mit der Leistungsfähigkeit und dem Wohlbefinden.

Ist die Multispace-Struktur nur etwas für Großunternehmen, mit entsprechendem Etat?

Stephanie Wackernagel: Nein. Unsere Studie hat gezeigt, dass die Unternehmensgröße nicht entscheidend ist. Bereits heute ist eine variantenreiche Arbeitsumgebung in jeder Unternehmensgröße vorhanden. Das war auch für mich überraschend, aber tatsächlich ist die Verbreitung in etwa gleich verteilt. Auch bei einer Belegschaft von zehn Mitarbeitern lässt sich so eine Struktur relativ einfach realisieren. Wenn neben den festen Arbeitsplätzen noch ein kleiner Besprechungsraum, ein Kreativitätsraum und ein weiterer Rückzugsraum geschaffen wird, gibt es bereits vier verschiedene Bereiche für eine sehr kleine Anzahl an Mitarbeitenden. Hier würde ich schon von einer Multispace-Struktur reden.

Warum ist Ihre Studie „Wirksame Büro- und Arbeitswelten“ eigentlich in Kooperation mit designfunktion entstanden?

Stephanie Wackernagel: Im Gegensatz zu vielen öffentlichen, wissenschaftlichen Einrichtungen finanziert sich die Fraunhofer-Gesellschaft zum Großteil über Fremdmittel. Wir sind auf Anwendungsforschung ausgerichtet mit dem expliziten Ziel einen unmittelbaren Nutzen für die Industrie zu generieren. Natürlich können wir auch Gelder aus öffentlichen Fördertöpfen bekommen, aber auch darum müssen wir uns immer wieder neu bewerben und es kann passieren, dass zwischen Antragstellung und Förderentscheid ein Jahr liegt. Die Prozesse sind also ziemlich schleppend. Insgesamt ist es schwer mit öffentlichen Geldern schnell Ergebnisse zu erzielen, deswegen arbeiten wir sehr gerne mit der Industrie zusammen. Wir haben mit „Office 21“ z. B. ein großes Verbundforschungsprojekt, das bereits seit über 20 Jahren läuft und sich durch eine Vielzahl von Industriepartnern finanziert. Was designfunktion angeht, mit ihrer Unterstützung konnten wir die Studie „Wirksame Büro- und Arbeitswelten“ innerhalb eines Jahres durchführen, analysieren und auch bereits die Ergebnisse der Öffentlichkeit präsentieren. Das ist für so eine Studie äußerst zeitnah.

Designfunktion ist übrigens nicht der alleinige Sponsor der Studie. Wir haben zuvor mit allen Partnern die Interessenlage reflektiert und aufgenommen, welche Entwicklungen in der Zukunft relevant werden können. Unsere wissenschaftliche Autonomie blieb dabei vollkommen unangetastet - eine Grundvoraussetzung für die Durchführung unserer Studien.

Frau Wackernagel, herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Autor: Jonas Demel,  Fotos: Steelcase

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